Emotionaler und narzisstischer Missbrauch
Was versteht man darunter?
Emotionaler Missbrauch hat viele Facetten. Er beginnt meist in der Kindheit und ist oftmals eine für Außenstehende „unsichtbare“ Form des Missbrauchs, der aber gerade deshalb auch äußerst schädigende Folgen für die seelische und auch körperliche Gesundheit hat.
Er kann sich in Familien, Paarbeziehungen oder am Arbeitsplatz ereignen.
Der Missbrauch geschieht häufig in bestehenden Abhängigkeitsverhältnissen, z. B.
zwischen Eltern und ihren Kindern, Arbeitgeber*innen und Angestellten, Lehrer*innen und Schüler*innen, Seelsorger*innen und Hilfesuchenden etc.
Mobbing zählt ebenfalls zu dieser Missbrauchsform.
Die psychische Gewalt zielt darauf ab, Personen emotional so zu destabilisieren, d. h. zu schwächen, dass sie leicht steuerbar werden und somit für eigene Zwecke ausgenutzt werden können.
Dies ereignet sich v. a. darin, dass das Selbstwertgefühl dieser Personen gezielt zerstört und ihre Wahrnehmung in Frage gestellt wird, verbunden mit dem Erzeugen von Gefühlen von Angst, Schuld und Scham. Auf diese Weise wird ein starkes Machtgefälle erzeugt.
Beim narzisstischen Missbrauch, der als eine besondere Form des emotionalen Missbrauchs bezeichnet werden kann, wird außerdem von den Täter*innen ausgehend eine sehr starke emotionale Abhängigkeit bei den Betroffenen bewusst erzeugt, so dass es
diesen kaum möglich ist, sich ohne Hilfe von außen und therapeutischer Unterstützung aus den dysfunktionalen, von Manipulation geprägten Beziehungsstrukturen zu lösen.
Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
Nach wie vor werden die Folgen, die der emotionale Missbrauch für die Betroffenen haben kann, bagatellisiert. Da diese Form des Missbrauchs keine körperlich sichtbaren Spuren hinterlässt und die Täter*innen es verstehen, Außenstehenden ein positives Bild von sich zu präsentieren, wird den Opfern oftmals nicht geglaubt. Die meisten Beratungsstellen sind heutzutage immer noch mehr auf die Unterstützung nach körperlichen und sexuellen Gewalterfahrungen ausgerichtet, so dass es folglich für die Betroffenen der anderen
Missbrauchsformen sehr wenig Hilfsangebote gibt.
Emotionaler und narzisstischer Missbrauch kann u. a. zu Posttraumatischen Belastungsstörungen führen, wie sie auch bei Soldaten nach Kriegseinsätzen auftreten.
Die damit verbundene permanente Stressbelastung führt bei Kindern dazu, dass das
Nervensystem sich nicht vollständig entwickeln kann, so dass im Erwachsenenalter eine mangelnde Stresstoleranz zu beobachten ist.
Der Dauerstress bewirkt, dass bestimmte Bereiche des Gehirns (Hippocampus) sich
verkleinern, was negative Folgen für die Lernfähigkeit und Gedächtnisleistungen mit sich bringt.
Gleichzeitig wird auch bei nicht real bestehenden, aber vermuteten Gefahren das
„Alarmsystem“, die Amygdala, sehr schnell aktiviert, was verbunden ist mit Ängsten und Handlungsunfähigkeit, da der Flucht- oder Kampfmodus bzw. ein „Freezing“ (Erstarren) ausgelöst wird. Die Kreativität und Entwicklungsmöglichkeiten sind in diesem Modus blockiert.
Ein ständig bestehendes Übermaß an sogenannten „Stresshormonen“ im Körper bewirkt auch körperliche Schäden.
Betroffene von emotionalem Missbrauch richten ihre gesamte Aufmerksamkeit und
Verhaltensweisen auf die Erfüllung der Bedürfnisse der Täter*innen aus, um sich vor schwerwiegenden Bestrafungen zu schützen. Dabei verlieren sie das Gespür für das eigene Selbst, die eigenen Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse und sie können oftmals auch ihren Körper nicht mehr gut spüren.
Sie sind überaufmerksam vermeintlichen Gefahren gegenüber, haben aber oftmals das Gespür für reale Gefahren verloren.
Im Zuge emotionaler Abhängigkeit glauben sie, dass nur die Täter*innen es vermögen, in ihnen Glücksgefühle hervorzurufen. In Fachkreisen vergleicht man diesen Zustand und die damit verbundenen Gefühle und Verhaltensweisen mit einer Drogensucht.
Das Selbstwertgefühl, das Gefühl für die eigenen Grenzen, die Selbstbestimmtheit und das Vertrauen in die eigene Wahrnehmungsfähigkeit gehen im Zuge des Missbrauchs zunehmend verloren. Auch das Vertrauen in andere Menschen und die Beziehungsfähigkeit sind erheblich eingeschränkt.
Durch die gleichzeitige Isolation von anderen Menschen durch die Täter*innen leben viele Betroffene schließlich sehr zurückgezogen und nehmen kaum noch am gesellschaftlichen Leben teil.
Zahlen und Fakten
In der Psycho- und Ergotherapie ist ein signifikanter Anstieg an Patient*innen zu verzeichnen, die emotionalen oder narzisstischen Missbrauch erfahren.
Gestützt wird diese Beobachtung durch folgende Entwicklungen:
Laut Polizeistatistik ist die Gewalt in Partnerschaften in einem Zeitraum von 5 Jahren ab dem Jahr 2017 von 138.893 Betroffenen auf 143.604 gestiegen und verzeichnete dem Bundeslagebild des BKA zufolge im Jahr 2022 erneut einen Anstieg auf 157.818 Personen.
Die Partnerschaftsgewalt umfasst sowohl physische als auch psychische Gewalt.
Bedrohung, Stalking und Nötigung, die der psychischen Gewalt zugeordnet werden können, machten zum angegeben Zeitpunkt dabei alleine einen Anteil von 24,2 % aus.
Jede Stunde erleiden durchschnittlich 13 Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Täglich kommt es dabei zu versuchten Tötungen von Frauen. Jeden dritten Tag stirbt eine Frau tatsächlich.
Die Anzahl der männlichen Täter weist dabei einen Prozentsatz von 80,1 % gegenüber 19,9 % weiblichen Täterinnen auf. Bezüglich der Gewalt in Familien wurde bereits 2014 im Ärzteblatt berichtet, dass 90 % aller Gewaltausübungen an Kindern aus emotionalem Missbrauch bestehen. Es ist davon auszugehen, dass diese Form der Gewalt auch zwischen den Eltern praktiziert wird.
Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Zum einen bringen die Täter*innen bekanntermaßen die Opfer - ob Kinder oder Erwachsene - durch Einschüchterung und Drohung dazu, über die Vorfälle Stillschweigen zu bewahren, so dass bei weitem nicht alle Fälle zur Anzeige gebracht werden. Zum anderen haben Anzeigen für die Betroffenen kaum Aussicht auf Erfolg, da diese Form des Missbrauchs schwer nachzuweisen ist, da er keine sichtbaren körperlichen Spuren hinterlässt. Die Tatsache, dass den Betroffenen oftmals nicht geglaubt wird, stellt für diese eine außerordentliche Belastung dar.
Die Aufgabe der Psycho- und Ergotherapie
Da die Betroffenen meist bereits in ihren Ursprungsfamilien emotionalen oder narzisstischen Missbrauch erfahren haben, fällt es ihnen oftmals gar nicht auf, dass etwas „nicht stimmt“. Da die Täter*innen i. d. R. „zwei Gesichter“ haben, werden Gewaltanwendungen immer wieder als „Ausrutscher“ gewertet. Emotionale Abhängigkeit und die Angst vor dem Verlassenwerden verhindern die Trennung von den Täter*innen.
Meist kommen die Betroffenen aufgrund von Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder Angst-/Panikstörungen in die Psycho- oder Ergotherapie. Um sachgerecht intervenieren und fundierte Hilfestellungen leisten zu können, ist es erforderlich, dass die Therapeut*innen über ein entsprechendes Sensorium und Wissen bezüglich der Hintergründe verfügen, auf deren Basis die Störungen oder Erkrankungen entstanden sind. Dieses Hintergrundwissen ermöglicht es auch, die Betroffenen selbst oder auch die Öffentlichkeit bezüglich dieser Thematik zu beraten und zu informieren.
Anhand welcher Schlüsselbegriffe oder -Formulierungen können Betroffene feststellen, dass sie emotionalem oder narzisstischem Missbrauch ausgesetzt sind?
a) In Paarbeziehungen
Feststellungen wie:
- „Zuerst war unsere Beziehung der „Himmel auf Erden“, „zu schön, um wahr zu sein“, aber nun werde ich fast nur noch kritisiert und niedergemacht!“
- „Ständig werde ich bloßgestellt und verspottet - sogar vor anderen Personen!“
- Ich werde nur nett behandelt, wenn ich für meine Partnerin / meinen Partner etwas tun soll oder ihre / seine Erwartungen erfülle!“
- Erst einige Freunde und nun mein gesamter Freundeskreis haben sich plötzlich von mir abgewendet - ich weiß nicht warum.
- „Ich bin der „Blitzableiter“ in unserer Beziehung und habe Angst vor den ständigen, massiven Wutausbrüchen meiner Partnerin / meines Partners. Schon beim kleinsten Fehlverhalten bekomme ich sie zu spüren!“
- „Ich glaube, ich bin verrückt geworden! Ich bilde mir ein, etwas Bestimmtes gehört zu haben, doch mir wird ständig gesagt, dass dies nie und nicht so gesagt wurde, oder dass ich einfach nur zu empfindlich sei!“
- „Ich weiß nicht mehr, wer ich bin und was mir gefällt.“
- „Ich habe nur noch Schmerzen!“
- „Ich spüre meinen Körper überhaupt nicht mehr!“
- „Wenn ich nicht tue, was meine Partnerin / mein Partner will, droht sie / er, mich zu verlassen!“
- Oft fühle ich mich, als würde ich „am langen Arm verhungern!“
- „Ich mache oft Dinge, die ich eigentlich nicht tun will!“
- „Ich werde nach Meinungsverschiedenheiten oft ignoriert. Das ist ein schreckliches Gefühl! Dann denke ich immer: Das ist jetzt das Ende der Beziehung!“
- „Ich habe große Angst davor, verlassen zu werden - ohne meine Partnerin / meinen Partner bin ich nicht überlebensfähig.“
- „Wir unternehmen kaum noch etwas zusammen!“
- „Ich glaube, ich bin selbst schuld an meiner Situation!“
- „Mir wird oft gesagt, dass ich schuld daran sei, wenn meine Partnerin / mein Partner aufgrund meines Verhaltens schwer krank würde!“
- „Oft höre ich, dass ich meine Partnerin / meinen Partner dazu provoziere, mich schlecht zu behandeln.“
- „Ich kann froh sein, dass jemand wie ich überhaupt eine Partnerin, einen Partner hat!“
- „Ich fühle mich die meiste Zeit über deprimiert und schuldig und habe oft Angst!“
- „Ich nehme immer weiter zu, obwohl ich an meinem Lebensstil nichts geändert habe. Ich mache Sport und esse gesund, koche jeden Tag frisch!“
etc.
b) am Arbeitsplatz
- „Meine Kolleginnen behandeln mich sehr schlecht. Viele haben mir gesagt, das sei Mobbing. Ich habe mit meinem Chef gesprochen, er meint aber, dass ich ein Unruhestifter und Störfaktor sei. Wenn ich nicht dort arbeiten würde, gäbe es die Probleme gar nicht. Er wirft mir außerdem vor, dass ich die Konflikte nicht alleine geregelt bekomme!“
- „Mir wurden nach und nach wichtige Aufgaben entzogen. Ich weiß nicht, warum. Das fühlt sich bedrohlich an!“
- „Ich soll immer mehr Aufgaben in immer kürzerer Zeit erledigen – ich kann kaum noch atmen!“
- „Man teilt mir kaum noch Aufgaben zu - ich langweilige mich bei der Arbeit und fühle mich überflüssig!“
- „Ich wurde in ein anderes Büro versetzt, wo ich keinen Kontakt mehr zu Kolleg*innen habe!“
- „Alle Kolleg*innen erhalten wichtige Informationen von unserer Chefin, nur ich nicht! Ich kann so meine Arbeit nicht machen, das macht mir große Angst!“
- „Man wirft mir ständig vor, dass ich Fehler mache. Inzwischen mache ich auch viele Fehler!“
- „Wenn ich den Raum betrete, verstummen alle Gespräche und Zettel verschwinden schnell. Manchmal wird auch gekichert!“
- „Ich glaube, ich werde demnächst entlassen. Es herrscht eine furchtbare Stimmung gegen mich im Betrieb. Ich versuche, immer mehr zu leisten, in der Hoffnung, dass das anerkannt wird und ich bleiben kann. Aber ich bin kurz vor dem Zusammenbruch vor Erschöpfung!“
etc.
c) In der Familie
- „Meine Eltern verbieten es mir, Freund*innen mit nach Hause zu bringen und ich darf mich auch draußen mit niemandem treffen.“
- „Meine Eltern sagen ständig, ich hätte nur einen Spleen, wenn ich lernen möchte, Klarinette zu spielen. Der würde schon wieder vergehen!“
- „Seit Papa tot ist, muss ich Mama immer trösten - mich tröstet niemand!“
- „Mama sagt, sie habe mich bekommen, um nie mehr allein sein zu müssen!“
- „Papa ist wie ein Freund!“
- „Wenn ich von der Schule nach Hause komme, muss ich für meine jüngeren Geschwister kochen und den Haushalt machen!“
- Wenn ich bei Papa zu Besuch bin, fragt er immer, ob Mama schon einen neuen Freund hat!“
- „Seit Papa uns verlassen hat, muss ich mit Mama immer so komische Erwachsenengespräche führen und mit ihr schöne Kochabende machen, wo wir bei Kerzenschein zusammen essen!“
- „Ich habe mein ganzes Taschengeld gespart, um Mama zum Essen einzuladen. Das hat ja früher Papa immer gemacht!“
- „Ich habe oft schreckliche Albträume!“
- „Ich möchte nie erwachsen werden!“
etc.